Kurvenfahrt am Fuss des Säntis
Mobilität Eine rund zehn Kilometer lange Passstrasse verbindet den Appenzeller Ort Urnäsch mit der Passhöhe Schwägalp. Dazwischen liegen 450 Höhenmeter und zahlreiche Kurven – keine leichte Aufgabe! Auf
Text: Jürg Aegerter
Ausgerechnet ein Mönch hat ein erstes Stück der Strassenachse von Rorschach nach Genf gebaut. Fürstabt Beda Angehrn von St.Gallen regierte vor 250 Jahren und war ein Visionär. Er sah, wie wichtig gute Strassenverbindungen waren und baute eine Durchgangsstrasse quer durch seine Fürstabtei – von Staad am Bodensee bis nach Wil, das 50 Kilometer westlich liegt.
Markus Kaiser, langjähriger Archivar im St.Galler Staatsarchiv, gilt als Kenner von Fürstabt Beda. der asphaltprofi besuchte Markus Kaiser in seiner Wohnung in der St.Galler Altstadt. Er weiss viel zu erzählen über den Abt und dessen Ausbau des Strassennetzes: «Anlass zum Bau der Strasse war die Hungersnot von 1771. Es war nötig, Getreide aus Italien herbeizuschaffen und in der ganzen Fürstabtei zu verteilen, um die Bevölkerung zu ernähren. Dies war nur mit guten Strassen möglich.» Das Getreide aus Italien wurde über die Alpen getragen und gelang dann per Floss auf dem Rhein nach Rheineck. Von dort aus ging es damals zu lange, bis das Getreide in der ganzen Fürstabteil verteilt werden konnte. Dies sollte rasch ändern. Bereits im Jahr 1774 wurde mit dem Bau der Durchgangstrasse begonnen – im gleichen Jahr war bereits die Strecke von Staad bis Gossau fertiggestellt. Später folgte die weitere Strecke nach Wil. Andere Strassen quer durch die Fürstabtei folgten.
Der St.Galler Geschichtsschreiber Gall Jakob Baumgartner beschreibt in einem historischen Dokument, wie Fürstabt Beda bei Oberbüren einen möglichen Standort für den Bau einer Brücke über die Thur besichtigt: «Es wird eine grosse Brugg von 700 Schuh lang; doch ist Holz genug in der Näche und zwar alles uns zugehörig.» Schon damals zeigte sich: Wenn einem alles gehört, kann man vorwärts machen mit bauen. Bereits eine Woche nach dem Augenschein des Fürstabts begannen die Arbeiten an der Brücke. So schnell ging Strassenbau vor über 244 Jahren. Markus Kaiser erklärt: «Abt Bedas Strassenbau war ein Schritt in die Neuzeit. Dass schon damals die Linien des Verkehrs richtig erkannt wurden, ist von bleibender Bedeutung.»
Die Römer bauten ihr Reich mit Strassen
Der Ausbau der Verkehrsnetze prägt seit jeher die Entwicklung von besiedelten Gebieten. Die Römer erschlossen mit Strassen quer durch Europa und darüber hinaus ein Reich. In der Schweiz war die Entwicklung von Siedlungen vom Hochmittelalter bis ins 19. Jahrhundert geprägt von einer zunehmenden Verstädterung. Bestehende Städte wurden immer grösser – und es kamen neue Städte dazu. Um das Jahr 1800 lebten in St.Gallen erst 8’100 Menschen, in Zürich waren es nur 10’000 Einwohnerinnen und Einwohner. Grösste Schweizer Stadt war Genf mit über 20’000 Leuten. Damals spielten sich das Leben und die Mobilität weitgehend innerhalb der Stadtgrenzen ab. Arbeit, Wohnen, Freizeit: Alles war in Fussdistanz erreichbar.
Industrielle Revolution ist auch eine Transport-Revolution
Mit dem neuen Bundesstaat 1848 wurden die Menschen in der Schweiz immer mobiler. Es gab mehr Kontakt und Handel zwischen den Städten. Die Landstrassen wurden ausgebaut und die Transporte verlagerten sich in der Folge von den Wasserläufen auf die Strassen.
Durch die neuen Transportwege vergrösserten sich die Absatzmärkte – gleichzeitig wurde der Transport von Gütern schneller und billiger. Diese Entwicklung betraf allerdings nur die Güter; die Menschen bewältigten weiterhin innerhalb ihres angestammten Wohn- und Arbeitsquartiers die meisten Distanzen zu Fuss. Die Strasse war öffentlicher Raum, nicht Fahrbahn. Erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert änderte sich dies.
Die Städte wuchsen stark, und damit nahmen auch die Wege innerhalb der Städte zu. 1918 war das Tram das wichtigste Verkehrsmittel innerhalb einer Stadt, mal abgesehen vom Fussgängerverkehr. Das Velo wurde erst mit der Massenproduktion in der Zwischenkriegszeit zum populären Verkehrsmittel. Das Auto blieb bis zum Zweiten Weltkrieg einer kleinen, reichen Schicht vorbehalten.
Boom-Jahre sind Auto-Jahre
Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Wirtschaft und die Bevölkerung rasant. In den 1950er-Jahren wurde gebaut und gebaut – vor allem ausserhalb der historischen Siedlungskerne. Die urbanen Gebiete breiteten sich aus. So entstand eine neue Siedlungsform: die Agglomeration. Die Motorisierung wuchs in den 1960er-Jahren der Autoverkehr stark. Der Ausbau des Autobahn-Netzes schritt voran, die Wirtschaftszentren des Landes wurden besser miteinander vernetzt. Heute ist das Nationalstrassennetz in der Schweiz praktisch vollständig ausgebaut. Es fehlen noch 35 Kilometer. Insgesamt umfassen die Autobahnen eine Länge von 1’859 Kilometern. Sie bewältigen rund 41 Prozent des Strassenverkehrs. 2019 nahm in der Schweiz der Fahrleistung auf Nationalstrassen gegenüber dem Vorjahr weiter zu: um 100 Millionen Fahrzeugkilometer. Autos, Töffs und Lastwagen haben im letzten Jahr 27.8 Milliarden Kilometer auf Autobahnen zurückgelegt. Auch gab es mehr Staus – sie kosteten die Volkswirtschaft rund 1.9 Milliarden Franken. Gründe: Verkehrsüberlastung, Unfälle und Baustellen. Es zeigt sich: Ausserhalb der Autobahnen nahm der Verkehr stärker zu als auf den Nationalstrassen. Dies, weil der Verkehr bei Stau auf der Autobahn auf Nebenstrassen ausweicht.
Mehr Geld und Respekt für den Autoverkehr
der asphaltprofi besuchte das MOAG-Kieswerk in Mörschwil. Holding-Geschäftsführer Markus Blum zeigt uns die grosszügige Anlage. Hier wird der Asphalt gemacht, auf dem der Verkehr anschliessend rollt. Knapp die Hälfte des gesamten Asphalt-Mischguts stammt aus Recycling-Material – also aus altem Strassenbelag. Auf die Staus angesprochen, stellt Markus Blum fest: «Die Schweiz verfügt über gute Strassen – aber die Kapazität ist zu klein.» Deshalb fordert Markus Blum, dass mehr Geld aus den Strasseninfrastruktur-Fonds auch tatsächlich für die Strasse eingesetzt wird. «Die heutige Verteufelung des Autos ist verrückt», sagt Blum. Vor allem auf dem Land seien viele Menschen auf ein Auto angewiesen. Er hofft, dass man dies in den Städten respektiere. Respekt fordert er auch für die Leistung der Strasse allgemein und er wünscht sich eine bessere Anerkennung der Leistung, die Mitarbeiter für die Strasseninfrastruktur leisten: «Ich hoffe, dass das Auto den Stellenwert kriegt, den es verdient.»
Wenn Corona will, steht alles still
Während des Corona-Lockdowns im Frühling 2020 stand der Verkehr praktisch still: menschenleere Strassen, verwaiste Züge, Busse und Trams. Es wurde plötzlich ruhig. Gespenstisch ruhig – denn gleichzeitig mussten viele Betriebe Kurzarbeit anmelden oder zumindest vorübergehend schliessen. Die Erkenntnis: Nur wenn der Verkehr rollt, läuft auch die Wirtschaft. Seit Corona sind offenbar mehr Autos auf der Strasse unterwegs als vorher. Viele Pendlerinnen und Pendler meiden aus Angst vor einer Ansteckung den öffentlichen Verkehr noch immer und fahren mit dem Auto zur Arbeit. Die Wissenschafterin Dr. Maike Scherrer-Rathje arbeitet als Projektleiterin am Institut für Technologie-Management an der Universität St.Gallen und ist Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule für angewandte Wisssenschaften. Sie untersucht das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden in der Corona-Zeit. Im Interview mit der asphaltprofi spricht sie von einer Wiedergeburt des Autos nach Corona: «Das Auto ist wieder viel stärker in das Bewusstsein der Leute gerückt. Personenwagen sind im Aufschwung. Dieser Trend widerspricht allen Bestrebungen der letzten Jahre nach einer nachhaltigen Mobilität.» Auch für die Expertin ist unklar, wie lange die Entwicklung noch anhält. «Das ist sehr schwer abzuschätzen – und es hängt auch mit der Entwicklung der Pandemie und des Angstgefühls ab.»
Multimodale Reiseformen
Die Zukunft liegt in der Verschränkung von mehreren Mobilitätsformen. Dieser Meinung sind sowohl die Wissenschafterin Maike Scherrer-Rathje als auch Markus Blum von der MOAG. Heike Scherrer sagt: «Mir ist bewusst, dass es nicht einfach wird, die Leute wieder für den ÖV zu gewinnen. Ein möglicher Weg dazu ist die Förderung von multimodalen Reiseformen.» So bewältigt man eine Strecke nicht nur mit dem Auto, sondern fährt zum Beispiel mit dem Velo zum Bahnhof, steigt in den Zug und mietet sich kurz vor dem eigentlichen Ziel ein Mietauto. Auch Markus Blum unterstützt das: «Eine Kombination von Auto, ÖV und Velo scheint mir sinnvoll.»
Zu Zeiten des St.Galler Fürstabts Beda vor 250 Jahren stand als Verkehrsmittel einzig die Pferdekutsche zur Verfügung. Entlang der neuen Strassen siedelten sich in der Folge viele Gewerbe- und Handwerksbetriebe an: Fuhrleute, Schmiede, Wagner, Gasthäuser und Herbergen. Damals wie heute zeigt sich: Wo eine Strasse ist, da ist Leben.
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