Strassen sind voller Leben. Schade, werden sie oft nur als Ort mit Lärm und Abgasen wahrgenommen. Dabei ermöglichen sie, was unser Leben schön, lebenswert und bunt macht: Spazieren entlang den Schaufenstern, Shopping oder ein Bier im Strassencafé mit Ausblick auf das pralle Leben.
Text: Jürg Aegerter
Illustration: Marie-Louise von Aarburg-Gerber
Ein lebenswertes Stadtzentrum – das wünscht man sich in Rorschach am Bodensee. In den kommenden Jahren wird der Stadtkern durch eine Umgestaltung aufgewertet und mit einem neuen Autobahnzubringer vom Schwerverkehr entlastet. der asphaltprofi macht sich in Rorschach mit dem Stadtpräsidenten Röbi Raths auf eine 300 Meter lange Tour entlang der Hauptstrasse.
Start unserer Tour: das Hotel Anker gegenüber dem Wahrzeichen der Stadt, dem Kornhaus am See. Im Parterre des Gebäudes bringt eine italienische Cafeteria tolles Mittelmeer-Feeling an den Bodensee. Röbi Raths gefällts: «Hier geniesse ich sonntagmorgens bei einem Cappuccino die lebendige italienische Atmosphäre.» Die oberen Stockwerke des Hotels Anker stehen seit Jahren leer. Viele sprechen von einem Schandfleck und trauern den glanzvollen Zeiten des ehemaligen Luxushotels nach: Der Schriftsteller Thomas Mann logierte hier. Stars aus dem Showbusiness und Bundesräte übernachteten im Hotel Anker. Röbi Raths kommt ins Schwärmen: «Früher war pralles Leben im Rorschacher Zentrum, da wollen wir wieder hin.»
Rund 2,5 Jahre unseres Lebens verbringen wir durchschnittlich im Auto. Und in dieser Zeit wird nicht nur gesteuert, gebremst und parkiert. Da fällt uns noch viel mehr ein, was wir im Auto tun oder nicht lassen können.
Im Stau stehen
In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der erfassten Staustunden auf Schweizer Nationalstrassen vor allem wegen Verkehrsüberlastung beinahe verdoppelt. 30 000 Staustunden im Jahr 2019 entsprechen rund einem Tag Stau pro Person im Jahr.
Einen Parkplatz finden
Gemäss Zahlen aus Deutschland verbringen wir durchschnittlich eine Arbeitswoche pro Jahr mit dem Suchen eines freien Parkplatzes.
Im Auto schlafen
Ganze 75-mal in seinem Leben schläft ein europäischer Autofahrer hinter dem Steuer kurz ein. Hoffentlich beim Halt auf der Raststätte.
Schöner fahren
Schminken, sich rasieren oder frisieren gehört zu den schönen Nebentätigkeiten im Auto. Der Rückspiegel im Auto wurde wohl dafür erfunden.
Im Auto lieben
Zu Sex im Auto kommt es durchschnittlich viermal im Leben. Doppelt so viel in Italien, gemäss italienischen Angaben.
Aufwertung des Zentrums
Heute gehört der 300 Meter lange Abschnitt zwischen Hotel Anker und dem Rathaus zu den meistbefahrenen Strassen der Region. An Spitzentagen rollen 14 000 Autos und Lastwagen vorbei. Das hört und sieht man. Da die Hauptstrasse als Kantonsstrasse eingestuft ist, steht der Kanton St.Gallen in der Verantwortung – und reagiert. Dieses Jahr starten die Arbeiten zur grossen Strassenumgestaltung (siehe Kasten). Ein Teil der Strasse wird zum Teil einspurig geführt – damit es ruhiger wird und mehr Platz zum Leben bleibt. Stadtpräsident Röbi Raths sagt es so: «Wir wollen den dominanten Charakter der Hauptstrasse brechen.» Zusätzlich soll der geplante neue Autobahnzubringer für Rorschach Entlastung bringen. «Da hoffen wir auf weniger Durchgangsverkehr und weniger Lastwagen», so Raths. Heute drängen sich auch Sattelschlepper durchs enge historische Zentrum. Die Geschäfte beidseits der Strasse leiden darunter. Einige Ladenlokale stehen leer. Dabei hätte die Einkaufsmeile mit rund 30 Geschäften einiges zu bieten.
Jahrgang 1961, ist seit zwei Jahren Rorschacher Stadtpräsident. Vorher war der FDP-Kantonsrat lange Präsident der Nachbargemeinde Thal-Staad-Altenrhein.
LITTLE BIG CITY RORSCHACH
– Knapp 10 000 Einwohner
– Fläche: 1,78 km2 – und somit ein wenig kleiner als Monaco (2,08 km2)
– In Rorschach sind die Strassenschilder rot und nicht blau wie andernorts
– Rorschach hat drei Bahnhöfe und knapp ein Dutzend Bahnübergänge
Die Läden an der Hauptstrasse haben Zukunft
Und schon sind wir beim nächsten Schauplatz: Wir stehen vor dem Velogeschäft Bischibikes (Raths: «Da habe ich mein Velo gekauft.») und schauen in Richtung Osten zum Modeladen Monsieur A, wo der Stadtpräsident seine Kleider besorgt. «Hier im Zentrum finde ich auf kleinem Raum alles, was ich brauche.» Tatsächlich fehlt kaum etwas: Es gibt Coiffeur-Salons, Eisdielen, traditionelle Modegeschäfte, Läden mit Festund Hochzeitsmode, ein Schmuckatelier, ein Nagelstudio, einen Claro-Laden und eine Hörberatung und Handyshops fehlen auch nicht. Röbi Raths: «Ladengeschäfte sind wichtig fürs Zentrum. Die Stadt kann den Läden nicht finanziell helfen, aber mit der Umgestaltung gute Rahmenbedingungen für sie schaffen. Touristen werden dann vermehrt vom See her ins attraktive Zentrum kommen – und einkaufen.» Die bessere Durchlässigkeit vom See ins Zentrum will man mit mehr platzartigen Flächen und breiteren Randbereichen für Fussgänger erreichen. Dafür wird die Breite der Strasse auf ein Minimum reduziert. «Mit der schmaleren Fahrbahn verlangsamen wir die Durchschnittsgeschwindigkeit der Fahrzeuge auf 30 bis 40 Kilometer pro Stunde», sagt der Stadtpräsident.
Klein-Monaco ohne Autorennen
Röbi Raths wohnt an der Hauptstrasse im Zentrum. An schönen Sonntagen sorgen Konvois von getunten lauten Autos für Ärger. Auch den Stadtpräsidenten bringen die sogenannten Autoposer in Rage. «Diese sinnlose Hin und-her-Fahrerei macht mich aggressiv und muss ein Ende haben», sagt Raths, der selbst ein sportliches Auto fährt. Wir sind am Ende unserer 300 Meter langen Hauptstrassen-Tour angelangt und stehen beim Rathaus, dem Sitz des Stadtpräsidenten. Röbi Raths sieht die Zukunft positiv: «In zehn Jahren haben wir in der Rorschacher Stadtmitte eine super Situation mit weniger Verkehr und prallem Strassenleben. Mit Elektroautos wird es zudem automatisch ruhiger.» Und er träumt: «Rorschach soll wie früher wieder mehr Leute anziehen, die den Ort als Lebensmittelpunkt auswählen, hier einen Tag verbringen oder Ferien machen wollen. Ich wünsche mir ein kleines Monaco am Bodensee – einfach ohne Autorennen.»
Strassenumgestaltung des Zentrums
Das Rorschacher Stimmvolk bewilligte im Jahr 2012 die neue Strassenumgestaltung mit 75,53% Ja-Stimmen. Der Baustart verzögerte sich wegen Einsprachen. Nun wird das Projekt in den nächsten drei Jahren umgesetzt, inklusive neuer Platzgestaltung. Die Kosten für den Strassenumbau betragen rund 7 Millionen Franken.
Autobahnzubringer Rorschach
Im Jahr 2019 wurde das Projekt eines neuen Autobahnanschlusses
für Goldach und Rorschach
vom Stimmvolk bewilligt. Der Anschluss soll die Region von Staus und von Durchgangsverkehr entlasten. Das Projekt kostet über 300 Millionen Franken.
MOAG Baustoffe
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