Philosophische Spurensuche

«Reflexion ist Arbeit»

Was versteckt sich hinter dem Begriff «selbstverständlich»? der asphaltprofi hat sich auf philosophische Spurensuche begeben, einen Experten gesucht und Gregor Schäfer gefunden, Lehrbeauftragter für Geschichte der Philosophie an der der Universität Basel.

 

Gregor Schäfer, was ist Selbstverständlichkeit?
Selbstverständlichkeit in einem prägnanten und relevanten Sinne meint heute die unbewusste und spontane alltägliche Annahme, dass die Normalität so, wie wir sie in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften kennen, unproblematisch fortdauern wird. 

Wie kann man Selbstverständlichkeit philosophisch einordnen und deuten?
Der deutsche Philosoph Hegel sagte einmal, dass das, was uns «bekannt» ist, von uns deshalb noch nicht «erkannt» ist. Den Zustand, in dem wir «selbstverständlich» leben, zu reflektieren, heisst, sich mit ihm aktiv auseinanderzusetzen. Das kann ein mühevoller, unbequemer Prozess sein. Er konfrontiert uns mit der oft unangenehmen Realität, dass die Grundlagen unseres Lebens keineswegs «selbstverständlich» sind, sondern von vielfachen Ungewissheiten und Veränderungen erschüttert werden können. 

Warum neigen wir dazu, uns in komfortablen Situationen einzurichten, ohne uns bewusst zu sein, wie gut wir es eigentlich haben?
Zunächst gibt es wohl allgemein einen anthropologischen Hang, sich in Situationen unbewusst einzurichten: Reflexion – die Distanznahme gegenüber dem, was ist – ist schwierig und mit Arbeit verbunden. Wir werden uns erst dann über eine Situation bewusst, wenn sich diese verändert oder schon verändert hat. Und hierbei gibt es oft eine Tendenz, die frühere Situation nachträglich zu idealisieren. Es gibt zudem auch gesellschaftliche und politische Strukturen und Interessen, welche die Menschen glauben lassen, «wie gut sie es eigentlich haben» – anstatt dass sie sich über ihre Situation bewusst werden und so vielleicht zur Erkenntnis kommen, dass eine vernünftige Veränderung ihrer Situation möglich und sinnvoll wäre.

Was geschieht mit den Menschen, wenn etwas bisher Selbstverständliches plötzlich wegfällt?
Wenn dieser Prozess nicht in reflektierter Form stattfindet, neigen krisenhafte Ausnahmesituationen – wie etwa eine Pandemie – dazu, nach einiger Zeit (scheinbar) wieder in die alte Normalität zurückzufallen. Doch bereiten sich Veränderungen zugleich immer auch unbewusst vor: Eine Rückkehr zur Normalität desselben alten Lebens gibt es nicht. Es hat sich – objektiv, irreversibel – etwas verändert, ohne dass die Menschen sich dessen schon bewusst sein müssten.

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